Die drei Augen der Erkenntnis

In diesem Artikel möchte ich einige Gedanken Ken Wilbers aus seinem Buch «Die drei Augen der Erkenntnis» [1] vorstellen, da sie mir für die Erforschung des Feinstofflichen wesentlich erscheinen. Sämtliche Aussagen und Zitate stammen aus diesem Buch.

Gemäss Wilber lehrte der heilige Bonaventura, dass der Mensch mindestens über drei Weisen, Erkenntnis zu erlangen, verfügt, die er «drei Augen» nannte:

  • das Auge des Fleisches, mit dem wir die äussere Welt des Raumes, der Zeit und der Dinge wahrnehmen,
  • das Auge der Vernunft, das uns Zugang zur Philosophie, zur Logik und zum Geist selbst verschafft und
  • das Auge der Kontemplation, das zur Erkenntnis transzendentaler Wirklichkeiten erhebt.

Diese «drei Augen» des Menschen entsprechen den drei Hauptebenen des Seins, wie die Philosophia perennis sie beschreibt:

  • das Grobstoffliche (fleischlich und materiell),
  • das Feinstoffliche (geistig und seelisch) und
  • das Kausale (transzendent und kontemplativ).

Das Auge des Fleisches
Das Auge des Fleisches ist das empirische Auge, das Auge der Sinneserfahrung. Es nimmt den grobstoffliche Bereich von Raum, Zeit und Materie wahr. Dies ist der gemeinsame Erfahrungsbereich all jener, die ein ähnliches Auge des Flei­sches besitzen. Der Mensch kann diesen Bereich in einem gewissen Mass sogar mit anderen höher-entwickelten Tieren teilen, weil die Augen des Fleisches einander ähnlich sind. Für einen Organismus, dem der nötige Erkenntnis- und Wahrnehmungsmodus, das entsprechende Auge des Fleisches, fehlt, existiert ein Objekt nicht, das vom Auge des Fleisches wahrgenommen wird.

Das Auge der Vernunft
Das Auge der Vernunft oder, allgemeiner, das Auge des Geistes, hat Anteil an der Welt der Vor­stellungen, Bilder, der Logik und der Begriffe. Hier haben wir den Bereich des Feinstofflichen. Da das moderne Denken vorwiegend auf dem empirischen Auge, dem Auge des Fleisches, als der einzigen Erkenntnisquelle aufbaut, sollte man daran denken, dass das Auge des Geistes nicht auf das Auge des Fleisches reduziert werden kann. Der geistige Bereich schliesst die Welt der Sinne ein, geht aber über sie hinaus. Das Auge des Geistes kann sich in der Vor­stellung nicht unmittelbar vorhandene Sinnesobjekte bildhaft vergegen­wärtigen und so das Eingesperrtsein des Fleisches in der vorhandenen Welt transzen­dieren. Im Bereich der Logik kann es sensomotorische Objekte «theo­re­tisch» manipulieren und so tatsächliche Bewegungsabläufe trans­zen­dieren; durch Willensakte kann es impulsiv-triebhafte Entladungen auf­schieben und so die bloss animalischen und niederen Aspekte des Organismus trans­zen­dieren.
Obwohl das Auge des Geistes einen Grossteil seiner Informationen dem Auge des Fleisches verdankt, stammt nicht alle geistige Erkenntnis aussschliesslich aus fleischlicher Erkenntnis, und sie befasst sich auch nicht ausschliesslich mit den Objekten des Fleisches. Unsere Erkenntnis ist nicht nur empirisch und fleischlich. Die Mathematik zum Beispiel liefert nichtempirische und supra­empirische Erkenntnisse. Sie werden vom Auge der Vernunft und nicht vom Auge des Fleisches erarbeitet. Das gleiche gilt für die Logik. Die Wahrheit einer logischen Deduktion beruht auf ihrer inneren Stimmigkeit und nicht auf ihrer Beziehung zu Sinnesobjekten. In der Mathematik und in der Logik – und da­rüber hinaus: in der Imagination, im begrifflichen Verstehen, in der psycho­lo­gischen Einsicht, in der Kreativität – sehen wir mit dem Auge des Geistes Dinge, die dem Auge des Fleisches nicht ganz gegenwärtig sind.

Das Auge der Kontemplation
Das Auge der Kontemplation verhält sich zum Auge der Vernunft wie das Auge der Vernunft zum Auge des Fleisches. Die Vernunft transzendiert das Fleisch, die Kontemplation transzendiert die Vernunft. Kontemplation kann ebenso wenig auf den Verstand zurückgeführt oder aus ihm abgeleitet werden wie der Verstand aus dem fleischlichen Erkennen.

Die empirisch-analytischen Wissenschaften gehören zum Auge des Fleisches, die phänomenologische Philosophie und die Psychologie zum Auge des Geistes und Religion und Meditation zum Auge der Kontemplation.

Kategorial-Irrtümer
Sinneswahrnehmung, Verstand und Kontemplation enthüllen ihre je eigenen Wahrheiten in ihrem jewei­ligen Bereich, und sobald ein Auge für das andere zu sehen versucht, verschwimmt ihm alles. Es ist wichtig, diesen Kategorial-­Irr­tum, der darin besteht, dass ein Auge versucht, die Rolle der anderen beiden zu über­nehmen, zu vermeiden.
Zur Veranschaulichung:
Die grossen Weisen des Hinduismus, des Buddhismus, des Christentums, des Islam und so weiter haben alle das Auge der Kontemplation, das dritte Auge, mehr oder weniger weit geöffnet. Das heisst aber keineswegs, dass sie dann automatisch auch auf den Ebenen des ersten und zweiten Auges Experten ge­wor­den sind. Die Genesis zum Beispiel ist eine Offenbarung der Evolution der manifesten Wirklichkeit aus dem Nichtmanifesten, die sich in sieben Haupt­stufen (sieben Tagen) vollzieht. Es ist die Übersetzung einer supra­mentalen Erkenntnis in die poetischen Bilder des geistigen (mentalen) Auges. Doch dann nehmen jene, deren Auge der Kontemplation noch verschlossen ist, die Offen­barung für eine empirische Tatsache und für eine rationale Wahrheit. Und das ist ein Kategorialfehler. Die Wissenschaft hat ihn entdeckt und mit Nach­druck blossgestellt.

Verifizierung
Wenn wir davon ausgehen, dass die empirische Erkenntnis nicht die einzige Form von Erkenntnis ist, sondern dass es ausserdem noch die geistig-rationale und die kontemplativ-spirituelle Erkenntnis gibt, stellt sich die Frage, wie sich diese höheren Formen der Erkenntnis beweisen lassen. Wenn es keinen em­pi­rischen Beweis für die gibt, was bleibt dann noch?
Wilber geht davon aus, dass alle Erkenntnis wesentlich strukturverwandt ist und daher auf ähnliche Weise bestätigt oder widerlegt werden kann. Jede stich­haltige Erkenntnis – gleich in welchem Bereich – besteht aus drei Grund­kom­po­nenten:

  • Injunktion: Darunter versteht man eine Reihe von Anweisungen, die einfach oder komplex, innen- oder aussengeleitet sein mögen, aber stets die Form haben: «Wenn man etwas Bestimmtes wissen oder erkennen will, muss man dies oder jenes tun.»
  • Illumination: Darunter wird das wahrnehmende Sehen mit jenem spezifischen Auge der Erkenntnis, das durch die Injunktion aktiviert wurde, verstanden. Was da ein-leuchtet, kann einen selbst er-leuchten, es kann aber auch zur dritten Komponente führen, zur
  • Konfirmation: Sie ist das gemeinschaftlich geteilte illuminierende (Wahr-nehmende) Sehen derer, die dasselbe Auge benützen. Wenn die anderen die gemeinsame Wahrnehmung bejahen, kommt dies einem gemeinschaftlichen oder konsensuellen Beweis wahrheitsgemässen Sehens gleich.

Die injunktive Komponente beinhaltet also die Forderung, das durch die jeweilige Anweisung angesprochene Auge zu schulen, damit es die Eindrücke, die es zu empfangen hat, überhaupt wahrnehmen, erkennen kann. Dies gilt für Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Kontemplation, kurz für alle Formen wirklichen Erkennens. Weigert sich jemand, der ersten Grundkomponente des Erkennens zu entsprechen, kann er die beiden weiteren Komponenten un­mög­lich erfüllen.

Beispiel für das Auge des Fleisches: Die injunktive Komponente (1. Grund­kom­po­nen­te) könnte lauten: «Wenn du nicht glaubst, dass es regnet, geh’ hinaus und sieh nach!» Der Mensch geht hinaus und sieht – und damit kommt er oder sie zu der Erleuchtung, bzw. Erkenntnis (2. Grundkomponente). Wenn auch andere Menschen der Anweisung folgen und wenn sie alle dasselbe sehen, gelangen wir zur konfirmativen Komponente (3. Grundkomponente).
Die Anweisungen können jedoch auch ziemlich komplex sein, wie zum Beispiel: «Wenn Du einen Zellkern sehen willst, muss Du lernen, wie man histologische Präparate anfertigt, mit dem Mikroskop umgeht, Gewebeproben färbt, die einzelnen Zellbestandteile voneinander unterscheidet usw. – und dann schau hin!»

Transzendentales Forschen:
Grundlage und Mitte des Zen ist nicht eine Theorie, ein Dogma, eine Über­zeu­gung oder eine Grundannahme, sondern – wie bei jeder echten Suche nach Er­kennt­nis – eine Injunktion. Die injunktive Bedingung – Zazen oder Vipassana-Meditation – ist jahrelanges spezialisiertes Training und tiefgreifende Disziplin (ein anerkannter Roshi oder Zen-Meister muss zehn bis zwanzig Jahre lang üben). Zazen ist einfach das Handwerk, das eine spirituelle Offenbarung mög­lich macht, und man muss für diese Offenbarung schon entsprechend weit entwickelt sein – andernfalls bleibt sie eben aus. Nachdem der Forscher diese Bedingung gemeistert hat, wird er sich für die zweite Komponente öffnen, für die intuitive Erfassung des von der Injunktion anvisierten Objektbereichs, in diesem Fall der Daten des Transzendenten. Dieses intuitive Erfassen – als unmittelbare Erfahrung oder Wahrnehmung – heisst im Zen «Satori» oder kensho, was im wesentlichen einen «direkten Einblick in die eigene spirituelle Natur» bedeutet. Dieser «Einblick» ist ebenso absolut unmittelbar wie ein Blick durchs Mikroskop.
Die Erkenntnis eines bestimmten Menschen im Bereich der transzendentalen Objekte können natürlich unangemessen oder irrig sein, weshalb der Zen­Buddhis­mus auf jeder Stufe auf die dritte Komponente zurückgreift, die hier die sorgfältige Überprüfung durch den Zen-Meister und die Gemeinschaft der Meditationsteilnehmer ist. Die Konfirmation ist keineswegs ein automatisches Schulterklopfen; sie ist eine strenge Prüfung und ermöglicht die uneinge­schränk­te Zurückweisung und Nichtverifizierung einer Erkenntnis.

Ist das aber «Wissenschaft»?
Wenn Erkenntniswege wie Zen, Yoga, christliche Gnostik, Vajrayana-Buddhis­mus, Vedanta oder andere die drei Bedingungen für eine stichhaltige Daten-Akkumulation und -Verifizierung (oder -Widerlegung) also wirklich erfüllen, kann man sie dann zu Recht «Wissenschaft» nennen?
Die Antwort hängt natürlich davon ab, was man unter «Wissenschaft» versteht.
Wenn «Wissenschaft» dasselbe ist wie die drei Grundkomponenten des Er­kennt­nis­erwerbs in jedem beliebigen Bereich, sind die Richtungen des Zen, Yoga, und so weiter tatsächlich wissenschaftlich: injunktiv, instrumentell, experimentell, erfahrungsorientiert und auf Konsens abgestellt.

Referenz

[1] Ken Wilber: Die drei Augen der Erkenntnis – Auf dem Weg zu einem neuen Weltbild. Kösel, 1988 (ISBN 3-466-34195-7).

«Ist das Auge klar, so ist es auch die Welt.»
Ernst Freiherr von Feuchters­leben



















«Das Sehen mit den Augen des Leibes vermittelt die Erkennt­nis des Sinnlichen und Mate­riellen; das Sehen mit Geistes­­augen führt zur Anschau­ung der Vorgänge im mensch­li­chen Bewusst­sein, zur Beo­bach­­tung der Gedanken-, Gefühls- und Willenswelt; der lebendige Bund zwischen geisti­gem und leib­lichem Auge befähigt zur Erkenntnis des Organischen, das als sinnlich-übersinnliches Element zwi­schen dem rein Sinnlichen und rein Geisti­gen in der Mitte liegt.»
Rudolf Steiner: Goethes Welt­anschau­ung, GA 006, Seite 155.